Hallo. Ich bin Michael.

Authentische Menschen-Fotografie. Das ist meine Leidenschaft.

Portrait vom Fotograf Michael Sack aus Köln

Michael Sack
Fotograf aus Köln

 

Ich werde wach von den Sonnenstrahlen. Sie kitzeln meine Nase während mein erster Blick des Tages dem „Wanderer über dem Nebelmeer“ gilt. Nicht das Original von Caspar David Friedrich, sondern ein DIN A1 Poster in einem einfachen Holzrahmen, das seit Jahren gegenüber meinem Bett hängt. Fast jeden Morgen stelle ich mir die Frage, welcher Gesichtsausdruck der Wanderer heute hat. Sehnsüchtig? Fröhlich? Melancholisch?

Der Tag duftet heute nach Rom im Spätfrühling, nach frisch gebrühtem italienischen Caffè und nach Thujen und Zypressen. Während ich in Gedanken versunken meditativ die tiefdunkel gerösteten sizilianischen Robusta-Kaffeebohnen durch meine Handmühle treibe, schmeichelt sich eine fröhlich swingende Jazz-Melodie aus dem Nachbarfenster in mein Ohr um sich wohlig in meine Gehörgänge zu schmiegen. Es ist ein ganz normaler Samstagmorgen in einer verschlafenen Wohnsiedlung am Kölner Stadtrand.

Life is about saying yes! Ich entschließe mich spontan zu einem kleinen Ausflug zu meinem Lieblingsplatz. Ich lese gerne und so entscheide ich mich, ein verstaubtes Reclam-Taschenbuch, das ich zum letzten Mal im K12-Deutsch-Leistungskurs gelesen habe, mitzunehmen: „Der Fänger im Roggen“ von J.D. Salinger. Das gelbe Büchlein wandert zu meiner analogen Minolta-Kamera aus den Achtzigern in eine kleine Fototasche. Die Kamera ist ein Vor-Erbstück meines Vaters und faszinierte mich schon als kleines Kind ungemein. Vieles ist von dieser Faszination geblieben. Und vom Kind sein.

Nach zehn Minuten Fußweg durch die Wohnsiedlung erreiche ich auch schon den Wald. Laut Google Maps ist es gar kein Wald, sondern eine graue Fläche. In dieser grauen Fläche reihen sich mächtige grüne Laubbäume dicht an dicht und summen mit ihren Kronen gegen fröhlich spielende Kinder an. Der Strunder Bach schlängelt sich im Zickzack durch diese Vorstadtidylle.

Am Ufer dieses Rinnsals begegne ich einer alten Dame mit ihrem Löwchen, der aufgeregt schnuppernd von Baum zu Baum flitzt. Die Dame winkt mir zu, ich grüße freundlich zurück und betreibe mit ihr ein wenig Small Talk. Ich kenne ihren Namen nicht. Jedoch treffen wir uns hier von Zeit zu Zeit zufällig. Ich weiß, dass sie gerne Obstkuchen backt, jedoch Torten für völlig überbewertet hält. Ihren Schwiegersohn hält sie für eine Vollpfeife, weil er ihrem vierjährigen Enkel ein Smartphone zum Spielen gibt. Aber die Männer und Frauen der Freiwilligen Feuerwehr sind tüchtig, weil sie gestern den kleinen blubbernden Brunnen an der Bahnhaltestelle mit Hochdruckreinigern vom Moos befreit haben.

Nach 20 Minuten verabschiede mich mit einem Lächeln von der Dame und setzte meinen kurzen Weg bis zu meiner Lieblingsstelle fort. Das ist also die langweilige graue Google Maps-Fläche. So kann sich das Internet irren.

Ein umgefallener Baum ragt in das kleine Delta des Strunder Bachs. Große Steine im Wasser laden ein, springend das Bächlein zu überqueren. Heute entscheide ich mich jedoch für die Bank davor. Auf dieser Bank treffe ich nach langer Zeit Holden wieder. Einen Sechzehnjährigen. Mit jugendlichem Idealismus begibt er sich auf die Suche nach Anständigkeit und Wahrheit. Holden schildert mir sein Scheitern an der verlogenen Welt der Erwachsenen.  Es kommt, wie es kommen musste. Er erleidet seinen körperlichen und psychischen Zusammenbruch. Ich bin in New York. Es ist kurz vor Weihnachten. Im Jahre 1949.

Nachdem ich das Buch zugeklappt habe, dauert es ein paar Minuten, bis ich wieder im Hier und Jetzt angekommen bin. Ich zucke zusammen, als ich bemerke, dass ein Mädchen neben mir auf der Bank sitzt und an ihrer Flasche Gaffel Kölsch nippt. „Was zur Hölle…“ entlockt es mir. Sie lacht laut auf. Um ihre Augen und Mundwinkel zeichnen tiefe Lachfalten ein lebendiges Bild, das mich spontan an einen Nachmittag auf der Kirmes erinnert, als ich kreischend wie ein Teenager von einer Break Dance-Gondel hin und her gewirbelt worden bin. Life is about saying yes!

Meine Reaktion ist mir peinlich. Und wie immer, wenn mir etwas peinlich ist, versuche ich mich durch Quatschen aus der Affäre zu ziehen. Jessica studiert Germanistik an der Uni Köln. J.D. Salinger kennt sie nicht. Ich runzle unbewusst die Stirn, was ihr offensichtlich nicht unbemerkt bleibt. Literatur interessiert sie gar nicht so sehr. Aber Menschen, die interessieren sie umso mehr. Am liebsten würde sie ihr Studium schmeißen und in die Altenpflege gehen. Aber ihre Eltern sind davon wenig begeistert. Knochenjob. Kaum Kohle. Wenig gesellschaftliche Anerkennung. In mir keimt eine latente Wut, die sich dann in Resignation wandelt. Es ist kalt in Deutschland. An einem warmen Samstag im Juli.

Ich frage Jessica spontan, ob sie Lust auf ein paar Fotos hat. Jetzt. Sie lacht. Mit dem Buch? Und wieder bin ich in die übliche Falle getappt. Mein gesamtes soziales Umfeld und Social Media Kanäle kennen mich als Fotograf, wissen, dass ich immer eine Kamera dabei habe. Und leider viel zu selten verlasse ich diese gesellschaftliche Komfortzone. Anstatt mich zu erklären, hole ich wortlos meine alte Kamera aus der Tasche. Sie schaut mich kurz an, lächelt und nickt. Okay.

Was sie tun muss, fragt sie. Sei ganz du selbst. Sei nicht das, was du sein willst, sondern das, was du bist. Sie setzt sich zwischen zwei Buchen. Moos säumt den Baumstumpf, an dem sie sich anlehnt. Ein heller Lichtstreifen fällt kurz vor ihre angewinkelten Beine durch die Baumkronen auf den Waldboden. Ihr Blick streift in die Ferne. Etwas traurig. Und dennoch kraftvoll und selbstbewusst. Ich drücke den Auslöser.

Es ist ein ganz normaler Samstag in Köln. Und doch so besonders.